VOM SICHTBAREN ERGREIFEN DES UNSICHTBAREN

Marco Szedeniks künstlerische Enzyklopädie kultureller Zwischenräume und –zeiten

 

Die Welt wurde, seit sie vom Homo sapiens wahrgenommen wird, abgebildet, abgeformt oder abgemessen. Dass der Schöpfergott Eva aus Adams Rippe nach Adams Gestalt geformt hat, nachdem Adam vorher die Ehre hatte mit dem Odem Gottes Ebenbild eingehaucht zu bekommen: dieser Schöpfungsmythos hat die Evas dieser Welt gekränkt, zu Recht. Genugtuung haben sie aber eigentlich dadurch erhalten, dass der Eva- Abguss als zweiter Versuch des Schöpfers wesentlich überlebensfähiger geriet, wie wir heute wissen, und noch dazu viel

schöner, sodass Eva in der Weltgeschichte ungleich häufiger Gegenstand der Abbildung wurde als Adam. Zu dem uns geläufigen Kanon der Weltabformung und der Weltabbildung geriet kürzlich wieder die Weltvermessung stärker ins Bewusstsein. Daniel Kehlmann hat unter  dem Titel „Die Vermessung der Welt“ 2005 einen der erfolgreichsten Romane deutscher Sprache in den vergangenen Jahrzehnten geschrieben. Die fiktive Begegnung der altgewordenen Forscher Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß 1828 in Berlin

lässt die beiden Wahrnehmungsmodelle der Welterfahrung des ausgehenden 18. Jahrhunderts , in dessen Bann wir trotz Quantenphysik, Cyberspace und postmodernem Verschwinden der Räume in unserer Ferngesellschaft immer noch stehen, aufeinander prallen: der die Welt bereisende Naturforscher und Experimentator Humboldt und der das Universum vom heimischen Göttingen aus vermessende Mathematiker Gauß. Die Motive der Leser für solches starkes Interesse dürften zweifellos im Unbehagen an den Orts-, Geschichts- und Persönlichkeitsnivellierungen der fortschreitenden Globalisierung zu suchen sein. Im Zeitalter der Virtualisierungen von Zeit und Raum und des „iconic turn“, also der Hinwendung zu einer reinen Bildgesellschaft, spielt dabei die Sehnsucht nach Verortungen und greifbaren Zeugnissen physischen Daseins eine immer größere Rolle. So war im Deutschen Literaturarchiv in Marbach während einer  Ausstellung der Totenmasken der großen Denker und Dichter der Zulauf zu diesen Abgüssen wesentlich größer als zu den Bildschirmen mit den detaillierten Informationen über eben diese, mit ungleich differenzierterem Veranschaulichungsmaterial als die Abgüsse der Gesichtszüge hergeben können. Doch war es als wollten die durch Bildüberschwemmung ungläubig gewordenen Besucher gewissermaßen die Hand in die Wunde der Überlieferung legen und ihre persönliche Teilnahme durch die Herstellung solcher Beglaubigung wieder für sich neu aufladen.

Es ist spannend zu beobachten, wiedas milliardenhaft genutzte Medium Photographie die Funktion als volkstümlicher Hauptträger von Souvenirs zunehmend verliert. Die Leute wollen von ihren Reisen entweder Originale mitbringen oder deren „authentische“ Aura in Kult- Ausstellungen genießen können. Die Kunst- und Wunderkammer des 16. und 17. Jahrhunderts kommt wieder, und zwar von Künstlern aufgegriffen wie von Marco Szedenik. Darauf weist Museumsdirektor Helmut Herbst in seinem Einleitungstext in dem Buch „Weltabformungen - Im Dazwischen der Jetzte“ zur Ausstellung von Marco Szedenik in Museum der Stadt Waiblingen 2004 ausdrücklich hin. Er ist einer derjenigen Künstler, die für das eigentümliche Phänomen der Fern-Nähe in unserer Mediengesellschaft eine zeitgenössisch 

 

adäquate, weil wahrnehmungstheoretisch hoch reflektierte Veranschaulichung  gefunden hat.

 Sein Weg von den Ganzkörperabformungen, kleinteiligen Abformungen von Hautober- flächen zu Naturabformungen von Baumrinden zur ersten „Weltabformung“ 1998 bei einer Rußlandreise lässt sich als Suche nach Grammatik und Syntax dieser Sprache der Veranschaulichung beschreiben, hin zu einem Einklang von Mensch und Natur in „kosmischer Erfüllung“, wie der Künstler selbst seinen künstlerischen Ansatz beschreibt. Seine Versammlung ausgesuchter Fragmente von vergangenen und heutigen Kulturdenkmälern in Abguß und Zeichnung bündelt nicht nur das Unsichtbare, weil Abwesende im Kunstwerk, sondern reziprok formen sie Elemente einer Kommunikation mit fernen Räumen und Zeiten, eine Öffnung hin zu ihnen durch Translokation von Abgußobjekten in Marco Szedeniks auf  Meditation angelegten Universalsprache des Dazwischen. Dieser poetische Raum ist begrenzt und erfüllt von paradoxerweise so sichtbaren wie unsichtbaren, so haptischen wie virtuellen Werken von Szedenik.

Das Originalkunstwerk zwischen Originaldenkmal und Denkmalkopie

Wenn die Reisenden, ob von den Expeditionen wie die Naturforscher des 18. und 19. Jahrhunderts oder die Touristen heutzutage, Relikte und Trophäen mit nach Hause bringen, im stolzen Besitz von „Originalen“, so haben diese aber bereits einen wichtigen Teil ihrer Qualität als Originale verloren, indem sei aus ihrem ursprünglichen Kontext entfernt wurden, museal geworden sind. Im Museum befindet sich das Original in ein fremdes Gehäuse eingesperrt wie das wilde Tier in einem Zoo. Das Original einzufangen ist also ein höchst unzeitgemäßes Unterfangen, ein Überbleibsel der kolonialistischen Gier nach dem Exotischen, im Irrglauben, die Aura des Originals würde sich im musealen Kontext wiederher -stellen lassen in einer möglichst das Echte befördernden Inszenierung.

Marco Szedenik verhält sich weitaus moderner im Umgang mit dem Original, auch weitaus ökologischer, weil ressourcenschonender. Er belässt das Original bzw.  das Fragment des Originals  am Ort. Er formt es aber auch nicht ab, wie vor ihm viele Jahrhunderte lang Abgüsse von abertausenden Originalen vorgenommen wurden, die in der Regel das gesamte Original umfassten, sondern er fertigt ein Negativ aus Silikonkautschuk als  Abbild sowohl des Sichtbaren als auch des Unsichtbaren. Anders als die Photographie, die das Unsichtbare auf ihre Fotoplatte bzw. neuerdings in ihren digitalen Datenmengen nicht greifen oder messen kann, gelingt es ihm einerseits das Wahrgenommene zu konservieren wie der herkömmliche  Abguß bzw. Abdruck dies vermochte, andererseits aber das Gesamte, das Unsichtbare zu evozieren durch die offene Valenz, die sein Konstrukt aussendet ( „offen“ im Sinne, den Umberto Eco in seinem epochalen Buch „Das offene Kunstwerk“ eingeführt hat ). Insofern ist Szedenik gleichzeitig  ein konzeptueller als auch ein gegenständlicher Bildhauer und Zeichner. Was ihn als konzeptuellen Künstler betrifft,  so unterscheidet er sich von seinen Kollegen durch die paradoxe Eigenart der Sichtbarmachung des Unsichtbaren in dem Ergänzungszwang, den seine Werke auf den Betrachter ausüben. Walter de Marias geniales 

 

„Denkloch“ der 70-er Jahre oder das großartige Konzept eines gedachten geographisch-ökologischen Gesamtkörper „Zukunftsgarten Europa“ bleiben im Abstrakten der Abbildung durch Photo, Video, Dokumentation und Zeichnung . Die ausgelöste Imagination wird nie haptisch. Die Greifbarkeit der Wahrnehmung von Orten war bislang als künstlerische Vergegenwärtigung nur möglich um den Preis der Verkleinerung, wie zuletzt der Beitrag Chinas zur diesjährigen Biennale in Venedig mit Yin Xinzhens Koffer-Plastiken der „Tragbaren Städte“ zeigt, für die der Künstler seit 2001 von seinen Reisen nach Singapur, New York, Berlin oder Sydney mitgebrachte Kleidungsstücke zu Miniaturabbildungen dieser Städte modellierte.

Nicht die  abstrakte oder gegenständliche Abbildung des Originals als solche also interessiert Marco Szedenik, sondern der Transformationsprozess zwischen dem Aufspüren und Erspüren der Kraftfelder  historischer Orte und Objekte. Nach der Recherche, dem Suchvor- gang, der eben keine Spurensuche und Spurensicherung darstellt,  wie die gleichnamige Kunstbewegung dies praktizierte ( auf die nicht verobjektivierende, sondern versubjektivierende Struktur der Schönheitssuche bzw. Schönheitsverteidigung von Szedenik  hat Helmut Schober engagiert hingewiesen in dem - oben erwähnten – Buchkatalog zur Waiblinger Ausstellung ), wird der Teil, der für das Ganze steht, zum Blickzwang auf das Ganze, das zu imaginierende Unsichtbare und so präsent wie der in die Tiefen der Wasser -abgründe verschwindende große Rest des Eisbergs unmittelbare körperlich spürbar wird mittels der Spitze des Eisbergs – also nicht nur als allegorischer Verweis oder als symbolische Anwesendheit.

Szedeniks Zwischenwelten der „Jetzte“, gemeint ist der Plural von Jetzt als einer Stakkato-Abfolge jetziger Augenblicke, laden nicht nur die alten Orte neu auf, sie auratisieren im Kunstwerk, in der doppelten Abgußform des Negativs und der daraus wieder erschaffenen Positivform das ursprüngliche Original zum magischen Schlüssel eines Wiedereintritts in die alten Welten, die der Phantasie wiedergewonnen werden. Natürlich ist Szedenik mit diesem Kunstprogramm nicht weit entfernt von der deutschen Romantik des 19. Jahrhunderts, mit ihren Gängen in die Höhlen der historischen und persönlichen Erinnerung und ihrem Konzept der Erneuerung der Geschichte aus der innigen Verbindung von Kunst und Philosophie. Doch Szedeniks Blaue Blumen sind konkret, können angefasst werden und liefern die geistigen Waffen gegen die jeglichen Traum, jegliche Phantasie tötende totale Verfügbarkeit jedes beliebigen Ortes und jeder beliebigen Zeit. In einem Zeitalter, an dem wir den mangelnden ästhetischen Widerstand gegen rein wirtschaftlich optimierte Globalisierungsprogramme beklagen und die Kunst im Dienste immer stärkerer Entstofflichungen und Virtualisierungen sehen, wenn sie nicht harmlos im Life-Style-Kitsch herumdümpelt,

sehen wir in Marco Szedeniks Werk einen künstlerischen und geistigen Ansatz und Angel –punkt einer weiterführenden  Definition der Conditio Humana aus dem Geiste und mit den Mitteln des Tradierten, und mit dem kritischen Verstand und der schöpferischen Souveränität,  die für die menschen- und für die kunstwürdige Gestaltung der Zukunft die Not der  Stunde sind. Die Weltabformungen im Dazwischen der Jetzte erscheinen mir ein Weg.

Elmar Zorn