Anmerkungen zum Werk von Marco Szedenik

anlässlich der Ausstellungseröffnung „Stille Reserven“ im Kunstforum Kramsach
2.-29. Oktober 2011

Was als erstes an dieser Ausstellung auffällt ist die Verschiedenartigkeit der Exponate. Kleine unscheinbare klumpenartige Objekte stehen neben großen, sich überlappenden Wandskulpturen aus Metall, ein retabelartiges Exponat mit den Flaggen aller Nationalstaaten neben hochkomplexen tagebuchartigen Zeichnungen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, entweder haben wir es hier mit verschiedenen Künstlern zu tun oder der Künstler ist noch ein Suchender, der seinen eigenen Stil noch nicht gefunden hat. Nichts wäre falscher. Denn es gibt ihn natürlich, den gemeinsamen Nenner, den Klebstoff, der alle Objekte von Marco Szedenik zu einem einheitlichen künstlerischen Konzept verbindet.

Zuerst mal: Marco Szedenik denkt in Systemen und arbeitet in Serien, die oft über Jahre andauern. Es ist natürlich unmöglich, bei der Vielzahl von Projekten, die hier nur durch wenige Beispiele gerade mal skizziert werden können, alle Facetten seines Schaffens darzulegen. Ich möchte mich deshalb auf wenige Kernbereiche beschränken. 

Für mich ist ein Hauptaspekt im Werk von Marco Szedenik die Vernetzung und v.a. die Aneignung von "Welt". Was heißt das? Betrachten wir zu diesem Zweck einen Kernbereich seines Schaffens, nämlich das Projekt der "Weltabformung". Abformungen, Abgüsse - Kopien also im weitesten Sinn - waren immer schon ein Schwerpunkt im Schaffen von MS. Früher arbeitete er mit Polyester, was er um seiner Gesundheit willen Gott sei Dank aufgegeben hat. Vor Jahren nun hat er begonnen, auf Reisen Abgüsse von Teilen bedeutender und auch weniger bedeutender Objekte - Tempel, Gebäuden, Kirchen - zu machen. Sie sind naturgemäß klein, unscheinbar und tlw. auch vom ästhetischen Stadtpunkt aus betrachtet, als Einzelobjekte nicht besonders spektakulär. Das war aber auch nie beabsichtigt. Man soll sie nicht ästhetisch rezipieren, sondern konzeptuell. Mittlerweile sind es ca. 200 geworden. Marco Szedenik selbst hat das praktische Ende bei 1000 Abgüssen festgesetzt. Aber wann ist das theoretische  Ende erreicht ? Doch erst dann, wenn keine Leerstelle mehr frei bleibt, wenn also alle Puzzlesteinchen an ihrem Platz sind, wenn die ganze Welt als 1:1 - Abguss hergestellt ist. Das ist das faszinierende, aber auch das absurde, monströse, ja gotteslästerliche Prinzip hinter diesem Projekt: die Nachschöpfung und Aneignung der Welt mit künstlerischen Mitteln und im gleichen Maßstab. Wir wissen alle, dass das nicht geht, in der Praxis. Aber es kommt auf die gedankliche Weiterführung und Vervollständigung an. Elmar Zorn hat in einem Text über Marco Szedenik einmal geschrieben: "Die Greifbarkeit (..) von Orten war bislang (...) nur möglich als künstlerische Verkleinerung(...)...der Teil, der für das Ganze steht, wird zum Blickzwang auf das Ganze, das Unsichtbare - d.h. in unserem Fall also das Noch- Nicht- Abgegossene der Welt - präsentiert sich wie die Masse eines Eisberges unter Wasser". Ein Eisberg, der mit jedem neuen Abguss ein Stückchen weiter auftaucht und damit Teil der wirklichen Welt wird.

Diese Weltabformung ist somit kein praxisbezogenes Projekt, sondern ein konzeptuelles. Marco Szedenik ist deshalb nicht nur Bildhauer, sondern Konzeptkünstler. Die Idee der Weltabformung und Weltaneignung ist natürlich gemessen am theoretischen Anspruch und Ansatz von vorneherein zum Scheitern verurteilt, ein moderner Turm zu Babel gewissermaßen. Das mindert den Wert des Projektes aber in keinster Weise, sondern im Gegenteil: das Scheitern wird gewissermaßen zum künstlerischern Prinzip, zum dem dem Werk von vorneherein immanentem Wesen, Marco Szedenik wie Sisyphos zu einem tragischen, aber auch wie Don Quijote zu einem komischen Helden.

Ein zweiter Aspekt, der diesem Projekt - und den vielen anderen, wo er mit Abgüssen arbeitet - innewohnt, ist der von Original und Kopie. Das Abgießen von berühmten Originalen - v.a. antiken Plastiken - ist ja im Wesentlichen eine Erfindung des 19. Jh. und hatte mehr akademisch-pädagogischen denn künstlerischen Charakter. Dass Originale Einfluss auf die Kopien haben, steht außer Frage. Welchen Einfluss haben Kopien aber auf die Konstitution der Originale? Wirken die Kopien auch auf die Originale zurück und wenn ja, auf welche Weise. Das sind Fragen, die sich Marco Szedenik von Anfang an gestellt hat, und die in seiner philosophisch-theoretischen  Basis, dem "Dazwischen der Jetzte", thematisiert werden: Was passiert in dem entstehenden Raum zwischen Original und Kopie ? In der zeitlichen Distanz zwischen dem historischen, vielleicht vor Jahrhunderten entstandenem Original und dem Abguss der Jetztzeit ?

Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen kompliziert, aber es ist komplizierter als es klingt. Das szedeniksche "Dazwischen der Jetzte" in seiner Gesamtheit zu erklären zu wollen, wäre bei dem hier zur Verfügung stehenden Platz vermessen. Ich kann nur meine persönliche Sichtweise dazu anbieten, basierend auf meiner Beschäftigung mit diesem Thema im Rahmen einer Ausstellung über Marco Szedenik im Augustinermuseum Rattenberg (2007).

Marco Szedenik hat speziell für diese Ausstellung einen Abguss von den Bodenplatten vor dem Hochaltar der Klosterkirche gemacht, also von einem besonders ausgezeichneten Ort und hat diesen Abguss dann ins Obergeschoß  gebracht und dort präsentiert. Diese Arbeit besteht somit aus den beiden Eckpunkten Original und Abguss, aber auch aus dem dazwischen liegenden Prozess der Ablösung und der neuen Verortung in Raum und Zeit. Es liegen ja sowohl zeitliche und räumliche Abstände dazwischen, welche die Kopie unweigerlich wiederum zu einem Original machen. 

Aber was passiert denn nun in diesem "Dazwischen"? Da das Objekt nach seiner Ablösung vom Vorbild eine letztendlich unendliche Anzahl von Raum-Zeit-Verortungen durchläuft, die untrennbar zum Objekt selber gehören und zu seiner Bestimmung notwendig sind, haben wir da nicht auch eine unendliche Reihe von Objekten vor uns, die in jedem einzelnen Moment, im jeweiligen "Jetzt" also, voneinander verschieden, aber doch auch gleich  sind? Eine unendliche Abfolge von Kopien und Originalen also, wodurch eine Unterscheidung und Trennung dieser beiden Begriffe eigentlich obsolet wird. 

So wie ich das verstanden habe, haben diese Jetzte und ihr Dazwischen eine mathematische, physikalische Substanz und sind  nicht nur als poetische Spielerei oder literarische Metapher zu sehen. Bei einer unendlichen Zerstückelung des Jetzt, wie groß ist dann das, was zwischen den einzelnen Jetzten übrig bleibt? Das muss dann mathematisch in Richtung Null und physikalisch in Richtung Singularität gehen.

Marco Szedenik hat in einer seiner hier ausgestellten Arbeiten die vielschichtigen Vernetzungen der Welt thematisiert und darin auch den Teilchenbeschleuniger CERN in Genf angeführt, wo man vor kurzem anscheinend Teilchen entdeckt hat, die schneller als das Licht sind. Das hätte eine ungeheure Auswirkung auf das Standardmodell unserer Weltsicht. Wenn Teilchen schneller sind als das Licht, dann müssten sie nach den geltenden Gesetzen der Physik in die Vergangenheit fliegen. Wie wirkt sich das auf die szedenikschen Jetzte aus ? Haben wir dann einen negativen Wert der diversen Dazwischen ? 

Was ich damit sagen möchte, ist, dass auch das System der „Dazwischen der Jetzte“ kein starres, unbewegliches oder abgeschlossenes ist, sondern sich den jeweiligen neuen Erkenntnissen anpasst. Und letztendlich auch als Methode dienen kann, über das nachzudenken, was unsere Welt eigentlich ist und was sie zusammenhält. Marco Szedenik hat natürlich auch nicht die richtigen Antworten, aber er stellt in und durch seine Kunst zumindest die richtigen Fragen, und das ist in unserer Zeit ja nicht wenig.

 

Hermann Drexel

 

Rede zur Ausstellung, gehalten anläßlich der Vernissage am 1. Oktober 2011.